Der Internationale Gerichtshof beruft sich, wie viele andere auch, zur Brandmarkung der Siedlungen als illegal auf die IV. Genfer Konvention von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Die entscheidende Passage fi ndet sich in Artikel 49, Absatz 6 und lautet:
»Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder transferieren.«
Der überwältigende Großteil der Verdammung der israelischen Gemeinden im Westjordanland stützt sich auf diesen einen Satz – und das, obwohl sowohl seine Anwendbarkeit auf den konkreten Fall als auch seine Auslegung umstritten sind. Israel vertritt bekanntlich die Position, dass es sich beim Westjordanland nicht um »besetztes«, sondern um »umstrittenes Gebiet« handelt, weswegen die IV. Genfer Konvention keine Anwendung finden könne.
Wenn Israelis sich im Westjordanland niederlassen, so tun sie das aus einer Reihe unterschiedlicher Gründe. Unstrittig ist aber, dass sie nicht dazu gezwungen werden, sondern es freiwillig tun. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass diese Menschen vom israelischen Staat dorthin »deportiert« oder auch nur »transferiert« werden. Was soll das Verbot einer zwangsweisen oder zumindest staatlich organisierten Umsiedlung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung damit zu tun haben, dass Israelis aus freien Stücken ins Westjordanland ziehen – zum Teil in Orte wie Hebron, in denen es jahrtausendelang jüdische Gemeinden gegeben hat, bevor sie im Zuge der arabischen Aggression gegen Israel buchstäblich judenrein gemacht wurden?
Den historischen Hintergrund von Artikel 49 bildeten die verschiedenen Umsiedlungsaktionen im Zuge des Zweiten Weltkriegs, allen voran die unmenschlichen Bevölkerungsverschiebungen, die von den Nationalsozialisten in Europa betrieben wurden und die etliche Millionen Todesopfer zur Folge hatten, darunter vor allem die Jüdinnen und Juden, die aus ganz Europa in die Vernichtungszentren im heutigen Polen deportiert und dort ermordet wurden. Der Sinn von Artikel 49 sollte es sein, eine derartige Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik zu verhindern. Um es klar zu sagen: Die Gründung israelischer Gemeinden im Westjordanland auch nur annäherungsweise auf die Stufe der Menschheitsverbrechen zu stellen, auf welche die IV. Genfer Konvention in dieser Passage abzielt, widerspricht dem Geist und der Absicht der Konvention und ist eine gleichermaßen skandalöse Relativierung der Gräueltaten der Nationalsozialisten wie infame Verleumdung Israels.
Dass der Artikel 49(6) keinen Bezug zu israelischen Gemeinden im Westjordanland habe, war auch die Haltung der sogenannten Levy-Kommission, die im Jahr 2012 von Premier Benjamin Netanjahu eingesetzt wurde, um den rechtlichen Status der Siedlungen zu erörtern. Sie kam zu dem Schluss, dass Israel eine Politik verfolgt habe, die es Israelis erlaubte, sich aus freien Stücken jenseits der Grünen Linie niederzulassen. Sie hatte »keinen Zweifel, dass die Errichtung jüdischer Siedlungen in Judäa und Samaria aus der Sicht des internationalen Rechts nicht illegal ist«. Die Bestimmungen der IV. Genfer Konvention seien nie zur Anwendung auf Handlungen wie die Israels im Westjordanland gedacht gewesen.
Einerseits wird unter den Tisch fallen gelassen, dass das israelische Handeln von keiner der verabscheuenswerten Absichten motiviert ist, die im IKRK-Kommentar angeführt werden. Insbesondere kann keine Rede davon sein, dass die israelischen Gemeinden die wirtschaftliche Lage der Palästinenser im Westjordanland verschlechtern oder schädigen würden.
Vielmehr trifft das Gegenteil zu: Palästinenser, die in den israelischen Siedlungen und Wirtschaftszonen arbeiten, verdienen ein Vielfaches des palästinensischen Durchschnittslohns und können Sozialleistungen in Anspruch nehmen, die es für Arbeitskräfte im Westjordanland sonst nicht gibt. Und erst recht unternimmt Israel nichts, was die »ethnische Existenz« der Palästinenser gefährden würde. Selbst wenn man das Westjordanland als »besetztes Gebiet« betrachtet, verfolgen die israelischen Siedlungen dort keinen der Zwecke, die die Verfasser vor Augen hatten, als sie Artikel 49(6) in die IV. Genfer Konvention aufnahmen.
Andererseits findet hier unter der Hand eine bemerkenswerte Uminterpretation statt, die den Sinn von Artikel 49(6) geradezu ins Gegenteil verkehrt.Denn wenn jede Ansiedlung von Israelis im Westjordanland eine »schwere Verletzung des Völkerrechts« darstellen soll, dann würde der Staat Israel sich nicht nur schuldig machen, indem er jüdische Gemeinden jenseits der Grünen Linie auf welche Art auch immer unterstützt, sondern auch, wenn er nicht aktiv verhindert, dass Israelis dorthin ziehen. Um dieser Interpretation gemäß nicht an den Pranger
gestellt zu werden, müsste Israel also mit all seinen zur Verfügung stehenden Mitteln sicherstellen, dass die Westbank und Ost-Jerusalem genau das ethnisch von allen Juden gesäuberte Land bleiben, zu dem es in den neunzehn Jahren unter jordanischer Besatzung gemacht wurde.
Mit einem solchen Verständnis des Völkerrechts würde »die Ironie ins Absurde gesteigert, indem behauptet wird, dass Artikel 49(6), der entworfen wurde, um eine Wiederholung der Völkermordpolitik der Nazis zur Schaffung judenreiner Gebiete zu verhindern, jetzt bedeuten soll, dass Judäa und Samaria (das Westjordanland) judenrein gehalten werden müssen – von der israelischen Regierung und notfalls unter dem Einsatz von Gewalt gegen die eigene Bevölkerung.« Während es überall sonst auf der Welt als klarer Fall von Antisemitismus gebrandmarkt würde, wenn Juden grundsätzlich verboten wird, sich niederzulassen, soll Israel dafür sorgen müssen, dass ausgerechnet in der historischen Wiege des Judentums keine Juden leben dürfen?
Andere Fälle fördern ganz ähnliche Befunde zutage wie die drei beschriebenen. Hervorzuheben wären darunter noch die von Russland besetzten Gebiete Abchasien und die Halbinsel
Krim: Obwohl vor allem die Besetzung der Krim im Jahr 2014 international für scharfe Kritik sorgte und deshalb Sanktionen gegen Russland verhängt wurden, ist die Siedlungspolitik in den russisch besetzten Gebieten international überhaupt kein Thema und von Art. 49 (6) keine Rede.Als Ergebnis von Kontorovichs Vergleich lassen sich aus der Staatenpraxis drei Schlüsse ziehen:
1. In allen Fällen einer länger andauernden Besatzung eines an die Besatzungsmacht angrenzenden Gebiets gibt es mehr oder minder umfangreiche Siedlungstätigkeiten, von denen manche tiefgreifende Auswirkungen auf die Demografie der besetzten Gebiete haben. Oftmals geht der Zustrom von neuen Siedlern Hand in Hand mit der Flucht oder Vertreibung zahlreicher Bewohner aus den besetzten Gebieten. Die großen Ausnahmen diesbezüglich waren die vietnamesische Besatzung Kambodschas – und die israelische Besatzung des Westjordanlands.
2. In allen untersuchten Fällen ging die fast selbstverständliche Siedlungstätigkeit mit weitgehendem internationalem Schweigen einher. Außer den betroffenen Ländern selbst verurteilten weder Staaten noch internationale Organisationen die jeweilige Siedlungspolitik als Bruch des Völkerrechts, und in keinem Fall wurde auf einen Verstoß gegen Art. 49(6) der IV. Genfer Konvention verwiesen – nicht im Sinne einer engen Auslegung, in der es um staatlich organisierte Umsiedlung und Deportation geht, und schon gar nicht im Sinne der viel weiter gefassten Auslegung, die schon die Ermöglichung oder Unterstützung des Zuzugs von Siedlern in das besetzte Gebiet als Bruch des Völkerrechts verurteilt. Eigentlich müsste Art. 49(6) umso häufiger Anwendung finden, umso weiter er ausgelegt wird. In der realen Praxis der Staaten und internationalen Organisationen spielt er aber selbst bei weitester Auslegung praktisch keine Rolle.
3. In keinem Fall forderte die internationale Staatengemeinschaft im Rahmen von Konfl iktlösungsprozessen den Abzug der Siedlerbevölkerung aus dem besetzten Gebiet. (Das forderten höchstens die betroffenen Staaten selbst, wie etwa Zypern im Fall der türkischen Siedler im türkisch besetzten Norden des Landes). Vielmehr wurde mehrfach explizit Sorge dafür getragen, dass die Siedler vor Ort bleiben und an der Zukunftsgestaltung des Landes mitwirken können.
All das steht in krassem Gegensatz zu der Art und Weise, wie Staaten, internationale Organisationen und andere Akteure sich im Fall der israelischen Siedlungen im Westjordanland positionieren: Hier wird ein Verhalten an den Tag gelegt wie buchstäblich gegenüber keinem anderen Fall auf der Welt. Die staatliche Praxis zeigt, dass Artikel 49(6) ausschließlich bemüht wird, um Israel an den Pranger zu stellen.
Der Vergleich zwischen Israel und ähnlich gelagerten Schauplätzen zeigt in aller Klarheit, wie hohl die Berufung auf internationales Recht bei der Verurteilung israelischer Siedlungen ist. Internationales Recht muss zwei Komponenten aufweisen: Es muss sich um Recht in dem Sinne handeln, dass Normen allgemeingültig festlegen, wie ähnlich gelagerte Fälle zu bewerten sind. Und es muss insofern international sein, als es nicht ausschließlich auf ein Land angewendet werden darf. Wenn Regeln und Normen nicht konsistent auf alle ähnlich gelagerten Fälle Anwendung fi nden, sondern auf einen einzigen Fall beschränkt bleiben, handelt es sich nicht um Recht, sondern um Willkür, die in der Verkleidung von Recht auftritt.
Dass diejenigen, die Israel aussondern und ausschließlich israelische Siedlungen als illegal verurteilen, ausgerechnet das internationale Recht im Munde führen, ist nicht Ausdruck des Bemühens um die Einhaltung internationalen Rechts, sondern dessen Perversion. Und regelrecht antisemitisch wird die Angelegenheit, wenn bei der Anwendung von Artikel 49(6) auf Israel von der internationalen Gemeinschaft ausschließlich Handlungen von Juden ins Visier genommen werden, während jene der arabischen Bevölkerung ignoriert werden.
»Wenn Israel ein Verbrechen begeht, indem es seinen Bürgern erlaubt, in Gebieten zu leben, die als besetzt oder umstritten defi niert werden, dann müsste das vernünftigerweise auf jeden Israeli zutreffen, der in die umstrittenen Gebiete zieht, nicht nur auf Juden. Das würde Tausende Beduinen und israelische Araber beinhalten, die in Viertel von Ost-Jerusalem wie Jabel Mukaber, Beit Sahur, Beit Safafa, Beit Hanina und Shuafat gezogen sind und dort Tausende illegaler Häuser errichtet und Geschäfte eröffnet haben.«
Ist die internationale Gemeinschaft wirklich der Ansicht, dass Israel dazu verpflichtet wäre, seine arabischen Bürger davon abzuhalten, sich in Ost-Jerusalem oder im Westjordanland niederzulassen? Verstößt es gegen die IV. Genfer Konvention, wenn ein israelischer Araber zu Verwandten nach Ramallah, Nablus oder Jenin übersiedelt? Oder wird hier einfach mit zweierlei Maß gemessen, indem Juden anderen Verpflichtungen unterworfen werden als Araber?
Die gebetsmühlenartige Wiederholung der Behauptung, israelische Siedlungen im Westjordanland seien nach internationalem Recht illegal, täuscht über den Umstand hinweg, dass sie auf einer bemerkenswert kleinen wie fragwürdigen rechtlichen Basis aufbaut:
Mit der exzessiven Interpretation eines einzigen, wenig präzisen Satzes wird eine völkerrechtliche Verpflichtung für Israel kreiert, die auf keinen anderen Staat und keinen anderen Konflikt auf der Welt angewendet wird.
Um einen Teil der Unklarheiten von Artikel 49(6) der IV. Genfer Konvention zu beseitigen, wurde die entsprechende Bestimmung im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aus dem Jahr 2008 umformuliert. Dort wird in Art. 8(2)(b)(viii) »die unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teils ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet« 48 zu einem Kriegsverbrechen erklärt. Dass die Erweiterung auf »mittelbare Überführung« eingefügt wurde, zielte direkt auf Israel ab.
Geltendes Völkerrecht wurde daraus allerdings nicht: Israel ist, wie die USA, Indien, Russland, die Türkei und Dutzende andere Staaten auch, kein Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs und daher an dessen Bestimmungen nicht gebunden. Doch selbst wenn man Artikel 49(6) so weit interpretiert, dass ein verbotener »Transfer« von Teilen der eigenen
Zivilbevölkerung in ein besetztes Gebiet bereits vorliegt, wenn ein Staat diesen nicht organisiert, sondern bloß auf irgendeine Art begünstigt oder fördert, lässt sich daraus keine pauschale rechtliche Verurteilung aller israelischen Gemeinden im Westjordanland ableiten:
Viele sind das Ergebnis privater Initiativen, die zum Teil gegen den Willen des israelischen Staates durchgesetzt und auf Land gebaut wurden, das entweder in jüdischem Besitz war, bevor Jordanien das Westjordanland illegal okkupiertund alle Juden vertrieben hat, oder das auf rechtlich einwandfreiem Wege erworben wurde. Zumindest in diesen Fällen »können weder der Geist noch die Buchstaben von Artikel 49(6) Anwendung finden«. Geradezu eine Perversion internationalen Rechts stellt der Versuch dar, aus der Genfer Konvention die Verpflichtung abzuleiten, Israel müsse jegliche Niederlassung eigener Staatsbürger jenseits der Grünen Linie verhindern. Wie der internationale Vergleich zeigt, werden hier an den
jüdischen Staat völlig andere Maßstäbe angelegt als an alle ähnlich gelagerten Fälle weltweit:
»Israel ist der einzige Staat seit dem Zweiten Weltkrieg, der ständig in UN-Resolutionen für die Besetzung eines Gebiets und den Transfer seiner Bevölkerung in das ›besetzte‹ Territorium verurteilt wird.«
Angesichts der völlig unverhältnismäßigen Aufmerksamkeit, die von der sogenannten internationalen Gemeinschaft auf israelische Siedlungen gelenkt wird, »stellt diese ständige Kritik Israels eine offenkundig diskriminierende und unfaire Anwendung internationalen Rechts dar. Das legt die Vermutung nahe, dass die dauernde Kritik der israelischen ›Siedlungspolitik‹ nicht von der Sorge um die Unverletzlichkeit des Rechts oder die Erfordernisse von Gerechtigkeit getragen wird, sondern von anderen politischen und militärischen Überlegungen.«.